Warum die Deutschen, warum die Juden
Es handelt sich um ein schon vor längerer Zeit bei Fischer erschienenes Buch des Historikers und früheren alternativen Linken und studentenbewegten Götz Aly.
Der Name Aly leitet sich aus friderizianischer Zeit ab, als die Fürsten sich so genannte Kammertürken hielten, privilegierte Migranten oder Zwangsverschleppte aus irgendwelchen Türkenkriegen: Ein Kammertürke war zum Ende des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert ein persönlicher Diener am Hof für eine Person, die dem höheren Adelsstand angehörte. Die Bezeichnung wurde unter Friedrich III. von Brandenburg eingeführt, der für seine zweite Frau, Sophie Charlotte, zwei Türken aus der siegreichen Schlacht bei Ofen – dem heutigen Budapest – im Zuge desGroßen Türkenkriegs gegen das Osmanische Reich im Jahre 1686 als Leibdiener verpflichtete, nachdem diese zum Christentum konvertiert waren. Später wurden diese beiden nun im Schloss Charlottenburg tätigen Kammertürken – Friedrich Wilhelm Hassan und Friedrich Aly – in der neu gegründeten Stadt Charlottenburg zu Freihäuslern (Wikipedia).
Nun, dieses Buch ist ein wertvolles und zugleich notwendiges Buch. Man sollte es lesen, nein, man muss es lesen.
Es beschreibt exakt in einer Zeitspanne von1800 bis 1933 das Wesen und Werden des zunächst schwelenden, allgemeinen, dann zunehmend aggressiven und schließlich militanten und bürokratischen Antisemitismus des Nazireiches, zu dem wir hier ja schon öfter Stellung genommen haben. Die Kernaussage ist die, dass der Antisemitismus in Deutschland, wie übrigens auch in anderen europäischen Ländern, vom Neid der Besitzlosen gegenüber den gebildeteren und besitzenden Juden des “Reiches”, das eigentlich nie eines von innen, vom Volk, sondern immer das Reich der Mächtigen, der Potentaten und deren Karrieristen war. Sie, die Juden, haben die “Christen” – diese stellt Aly immer wieder heraus – überholt, und während jene dann ökonomische Schlüsselpositionen einnahmen, blieben die Christen “dumm”.
Ich denke, dass darin ein wahrer Kern steckt, doch glaube ich, dass der Historiker Aly hier zu stark vereinfacht. Die Christen namentlich des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts generell als zurückgeblieben und bildungsfern zu bezeichnen, greift zu kurz. Von Harnack, Dietrich Bonhoeffer, Albert Schweitzer, Rudolf Bultmann, um nur einige zu nennen, waren alles andere als bildungsfern, und sie waren keine “Judenhasser”. Allerdings: die doch vorhandene, meist dörfliche oder kleinstädtische und kleingeistige Mentalität der dort ansässigen Christen (siehe Filme wie “Die Schwabenkinder” oder “Das weiße Band”) war dumpf-antisemitisch, manchmal auch – wenn die Protestanten das Sagen hatten, auch antiklerikal… Nährböden für das, was dann über uns kam.
Aber dieses Buch ist ein Schlüssel zu dem so rätselhaften Phänomen des Judenhasses unserer Vorfahren und Eltern. Es steckte in allen, und man musste sich sehr aktiv davon befreien. Das taten nur die Wenigsten. Die Meisten schauten weg, wurden zu diesem Wegschauen regelrecht erzogen und vermieden so ein vielleicht aufkommendes und unerwünschtes Schuldgefühl. Die Infamie der Herrschenden, der Verbrecher des Systems, reichte so weit, dass die “Volksgenossen” immer sagen konnten, sie hätten von nichts gewusst.
So what.