Deutschstunde
Lenz’ Deutschstunde ist ein Jahrhundertroman. Ich war manchmal der etwas überheblichen Ansicht, nach Thomas Mann “käme nichts mehr”, um mit Hanno zu sprechen, wenigstens im deutschen Schrifttum. Das stimmt nicht. Die Deutschstunde, die ich erst jetzt, erst so spät las, ist einzigartig. Warum?
Ein Erzähler namens Siegfried Lenz berichtet, erzählt, referiert – über eine Zeitspanne der deutschen Geschichte, genauer der Spanne von ca. 1944 bis 1947, obwohl man das nicht so genau herausbekommt. Die erzählten Personen sind sehr unterschiedlicher Natur und sie spielen unvermittelt da und dort – in anderen plötzlich wechselnden Zeitbezügen. Das macht das Lesen schwierig, und es ist keine Nachtlektüre.
Worum geht es? Dieses Lehrstück handelt von dem untergehenden Nazideutschland, seinen Pflichterfüllern und den Opfern, aber auch von der neu aufbrechenden “jungen Generation”. Im Mittelpunkt stehen drei Figuren, einmal Siggi, mit unstreitig autobiografischen Merkmalen, der Sohn des “Polizeiposten Rugbüll”, der die zweite Hauptperson, den Pflichterfüller, spielt. Die dritte aber ist der Maler Max Ludwig Nansen, das Opfer, das aber eigentlich kein Opfer ist, sondern dieser Maler befindet sich dauerhaft außerhalb der so genannten Ordnung von Staats wegen. Um diese Personen ranken sie eine Vielzahl anderer Mitspieler, die aber mindestens so interessant sind wie die Hauptpersonen.
Siggis Schicksal, das eines Kleinkriminellen, eines schwer erziehbaren Jugendlichen, der in einem Heim für ebendiese steckt und der sich im Rahmen einer Strafarbeit des Deutschlehrers (daher Deutschstunde) mit dem Thema “die Freuden der Pflicht” herumschlagen muss. Und herauskommt ebendiese Erzählung, dieser Roman. Der ist vielschichtig und wechselt seine Szenen rasch und unvermittelt; der Leser muss schon seinen Hirnkasten bewegen, will er immer und überall mitkommen. Aber die rote Linie ist klar: ein kleiner Blechtrommler (sic!) deckt auf, was ganze Fernsehserien und sogar Guido Knopp nicht rausbekamen: der durchschnittliche Bürger war pflichtbewusst, und das immer und mit einem gewissen Automatismus. Die Freuden der Pflicht sind auch nach der Aufgabe der Aufgabe weiterhin da und werden als Wert an sich verteidigt. Ein Prinz von Homburg ist nicht in Sicht. Und genau so waren viele der so genannten Mitläufer in den Freuden der Pflicht (oder der Qualen der Angst?) gefangen – es ist ein legitimer Deutungsversuch über die Deutschen in dieser Deutschstunde.
Ach hätten wir doch auch heute noch mehr von diesen Lenz-Diagnostikern.