“Was ich noch sagen wollte…”
Das ist der Titel eines längst bekannten Buches von Helmut Schmidt, dem Bundeskanzler von 1974 bis 1982. Es ist eine summa vitae, die immer wieder lesenswert ist. Ich las diese Buch vor einiger Zeit, doch fiel es mir kürzlich wieder in die Hände und ich las die Passage, die sich mit der Nazi-Zeit-Aufarbeitung des Luftwaffen-Oberleutnants Schmidt befasst. Nun haben wir als “Nachgeborene”, aber doch auch als Zeitzeugen uns schon länger- auch hier im Blog – mit der für uns ungelösten Frage beschäftigt, warum nur unsere Eltern und Großeltern sich derart in Schuld verstrickt haben, obwohl sie durchaus “normale” und moralisch meist unantastbare Menschen waren.
Eine Antwort gibt da Helmut Schmidt, immerhin als aktiver Offizier in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Es kommt bei ihm einerseits der Widerspruch zwischen Pflichtbewusstsein und Befehlsumsetzung zum Tragen. Andererseits aber ist die Handlungsweise auch durch die Angst getrieben, möglichst nicht aufzufallen, da er einen jüdischen Großvater hatte, und seine soldatische Karriere zu gefährden.
Schmidt glaubte allen Ernstes, dass 1939 der Überfall der Polen auf den Sender Gleiwitz der Wahrheit entsprach und der dann begonnene Angriffskrieg eine Art Selbstverteidigung war.
Wesentlich aber kam die späte Erkenntnis, dass das Regime verbrecherisch sei, besonders nach Stalingrad und den im durch Herbst 1944 befohlenen Besuch einer Sitzung des “Volksgerichtshofs” unter dem intelligent-brutalen Roland Freisler. Gegenstand der Verhandlung war das Hitlerattentat am 20. Juli 1944. Hier erfuhr Schmidt hautnah, wie kriminell unter dem Mantel des Rechts und der Gerichtsbarkeit gegen die Angeklagten vorgegangen wurde. Bis dahin war er “ahnungslos”, wie viele seiner Mitbürger und Kameraden.
Er schreibt:
“Ich gehöre einer Generation an, dei im Dritten Reich aufwuchs und nicht merkte, was das dritte Reich wirklich war. Hätte ich mir deshalb später Vorwürfe machen sollen? Die Heutigen wissen alles viel besser. Ich hatte einfach nur Angst, vor allem Angst, wegen meines halbjüdischen Vaters in Schwierigkeiten zu kommen. Ausserdem musste ich mich wegen meines frechen Mundwerks vorsehen; eine falsche Bemerkung konnte schnell dazu führen, dass man von der Gestapo gegriffen wurde- Vielleicht wäre ich damals schon aufgefallen, wenn ich mich genauer erkundigt hätte. Niemand hat später begreifen wollen, dass wir ahnungslos waren, nicht einmal meine Tochter.Auch Fritz Stern (jüdischer Historiker, 1926-2016), mit dem ich mich darüber unterhalten habe, sagte, ich müsse doch irgendwas gewusst haben.Er kann es noch immer nicht glauben. Es war aber so.”
aus “Was ist noch sagen wollte”; Helmut Schmidt, CH Beck 2015
Diese Aussage ist konkret und glaubwürdig genug, um das Argument der Ahnungslosigkeit und parallel dazu der enormen Angsthemmung ernst nehmen zu können. Grund dafür könnte zum Beispiel die (gewollte) Des- und Falschinformation durch die schon damals sehr wichtigen Medien Rundfunk und Print sein (Facebook und Twitter gab es ja noch nicht). Allerdings ist dieser Erklärungsversuch nur die halbe Wahrheit, denn der damalige Bürger ahnte es ja – spät aber immerhin. Und wir tragen diese Schuld bis heute und bis in alle Zukunft.
Ich bin mal gespannt, was Ihr dazu sagen werdet.
Ich kann nur zu schildern versuchen, wie ich es meiner Erinnerung nach erlebt habe. Da konnte von völliger Ahnungslosigkeit keine Rede sein. So wurde z.B. hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass der oder die “abgeholt” worden sei. Auch der Begriff KZ war nicht unbekannt – und das auf dem Dorf.
Es gab antisemitische Vorfälle – gegen Juden und solche, die man dafür hielt. Auf der anderen Seite
schützte der regimetreue Bürgermmeister ein jüdisches Schwesternpaar, das unbehelligt überleben konnte.
Mein Vater, Teilnehmer am 1. Weltkriegs mit langer Kriegsgefangenschaft, war als Volksschullehrer vom Frontdienst freigestellt, musste jedoch sog. als Kurier “Heimatdienst” leisten (sein Vorgesetzter war übrigens unser zeitweiliger Direktor Müller (“Piccolo”).
Mein Vater kam aus der Tradition des Jungdeutschen Ordens, der bekanntlich antisemitisch war.
Im Zuge der Entnazifizierung wurde er – etwas unscharf – als “Mitläufer ” eingestuft, das Umerziehungslager blieb ihm erspart. Er durfte allerdings einige Jahre nicht unterrichten und musste jobben. Ein überzeugter Nazi war er nicht, er äußerte sich innerhalb der Familie mehrfach skeptisch: an der Sache sei etwas faul und gehe sicher schief. Zeitweilig war er abkommandiert zum “Schanzen”, d.h. zu Arbeiten am Westwall in Holland. Wie er das alles unter einen Hut gekriegt hat, ist mir ein Rätsel. Er stammte aus einer Bauernfamilie mit einem überstrengen Vater. Er hat viel über die Vergangenheit erzählt, er war ein offener Mensch. Ich habe ihn leider zu wenig befragt.