Stoner
Es handelt sich bei diesem Roman um eine Besonderheit, denn der Roman ist bereits vor 50 Jahren erschienen (1965) und wurde jetzt wieder entdeckt (2013), und er ist für mich ein erzählerisches Glanzlicht Hemingway’scher oder Wolfe’scher Größe. Der Autor John Williams (1922-1994) war Dozent für englische Literatur an der University of Missouri, und dort spielt auch die Handlung dieses Romans. Es ist also eine wahrscheinlich in Grenzen selbst erlebte Geschichte und wirkt daher auch besonders authentisch.
Die Handlung ist eigentlich die eines Entwicklungsromans, aber auch eines Gesellschaftsromans des Protagonisten Stoner, der aus den ärmlichen Verhältnissen einer Farmerfamilie stammt, dennoch zur Universität (nach Columbia(Miss.) geschickt wird, um Agrarwissenschaften zu studieren und dann die Farm zu übernehmen.
Das spielt übrigens sich alles in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ab und die weltgeschichtlichen Ereignisse von Krieg und Wirtschaftskrise, auch des Nazi-Reiches scheinen immer wieder auf. Stoner nun mag irgendwann nicht mehr die Agrarwissenschaften, sondern wird durch die Einflüsse eines etwas verschrobenen Literaturprofessors Archer Sloane zum Studium der englischen Literatur animiert. Dort wird er nun erstaunlich erfolgreich und lernt aber auch den Universitätsbetrieb dieser Zeit so richtig kennen, seine Popularität nimmt zu, aber auch die markanten Intrigen der Kollegen und der Hochschulöffentlichkeit. Stoner heiratet in eine arrogante Südstaatenfamilie eines Bankiers, der später in der Weltwirtschaftskrise Selbstmord begeht. Seine Frau ist eine emotionslose dürre Figur, die die Hochzeitsnacht fast als Vergewaltigung empfindet und sich daher verweigert; die Ehe ist oberflächlich. Doch wird eine Tochter Grace geboren, die sein Liebling wird und dann später ihren eigenen Weg geht.
Stoner verstrickt sich in die Intrige des behinderten Kollegen Lomax, der als Fachbereichsleiter einen unfähigen ebenfalls behinderten Studenten Stoners schützt und diesen drastisch in seiner Lehrtätigkeit behindert. Das stößt sehr an die Grenzen der heutigen politischen Korrektheit! Wunderbar die Szenen der Prüfung dieses Studenten Walker, in der es um den Einfluss der lateinischen Grammatik auf das Wirken Shakespeares geht; der Student lehnt diesen Einfluss ab und fordert damit Stoner heraus, der ihn folgerichtig durchfallen läßt. Der Uni-Krieg beginnt, und weil Stoner nun auch noch eine Liebesbeziehung zu einer Studentin beginnt, muss an dieser Universität des verklemmten Establishments jener Zeit die Studentin fallen, und sie verläßt Stoner und die Uni. Ihre später verfasste Dissertation hat sei dennoch Stoner gewidmet. Stoner erringt später einen Sieg gegen Lomax; auch das wunderbar beschrieben.
Der Alterungsprozess Stoners setzt dann ein, er vereinsamt und ähnelt immer mehr seinem Vorbild Sloane. Er stirbt an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung.
Ich muss sagen, dass ich selten einen fesselnderen Roman, der die gesellschaftlichen Verhältnisse an einer amerikanischen Uni des beginnenden 20 Jahrhunderts beschreibt, gelesen habe. Die stoische Gelassenheit Stoners im Intrigenbetrieb dieser Uni, seine kleinen Siege des fast bäuerlichen Verharrens auf der Sache und seine wundersame innere Bereitschaft, kompromisslos zu lieben, das wirkt nach. Und ist denn diese Uni des beginnenden 20. Jahrhunderts so verschieden von der Feindseligkeit des Betriebes unserer gegenwärtigen Wissenschaftseinrichtungen?
Die erzählerischen Qualitäten des Autors sind superb, und ich wurde oft an Thomas Mann erinnert – doch fehlt dem Roman dennoch die innere Ironie Manns. Denn er ist durchweg ernst gefaßt und von einer stellenweise lyrischen Prosa-Kunst durchsetzt, die einen völlig gefangen nehmen kann.
Der Roman ist lesenswert und ich setze ihn auf die Prioritäten-Liste meiner literarischen Erlebnisse des Jahres 2015!