Die deutsche Identität
Gestern, am 27. Januar 1945, wurde ja das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von Einheiten der Roten Armee befreit und der Tag gestern ist denn auch ein Tag des kollektiven Erinnerns gewesen. Kollektiv? Wirklich?
Millionen Regimegegner, vor allem Juden, wurden in den Konzentrations- und Vernichtungslagern systematisch umgebracht. Systematisch! Und zwar von unseren Eltern und Großeltern – was immer noch viele von uns Übriggebliebenen irritiert und ratlos macht.
Doch durchaus auch viele der Gleichaltrigen und besonders der Jüngeren legen eine Art der Gleichgültigkeit und des Vergessens an den Tag (an diesen Tag!), die mich ebenfalls irritiert. Heute läßt sich fast alles mit Umfragezahlen “belegen”: Es sind wohl bis zu 68% unser Mitbürger aller Altersklassen, die eine Schlusstrich-Mentalität vertreten; 20% der unter 30-Jährigen wissen allerdings noch nicht einmal, was der Name Auschwitz bedeutet. Das macht mich nicht nur ratlos, sondern auch unruhig. Denn es geht ja um ein moralisches Bewusstsein, das sich aus der gemeinsamen Geschichte speist, also um eine Art nationaler Identität.
Hier nun hat unser Bundespräsident in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag gestern zwei Aussage gemacht: “Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz!” und “Solange ich lebe, werde ich darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war. Selbst eine überzeugende Deutung des schrecklichen Kulturbruchs wäre nicht imstande, mein Herz und meinen Verstand zur Ruhe zu bringen.”
Damit hat er, so meine ich, den Nagel auf den Kopf getroffen. Und alle, die meinen, einen Schlusstrich ziehen zu können, sind die potentiellen Mittäter von morgen. Die, die versuchen andere auszugrenzen, die etwa bei den Pegidademos mitlaufen, sollten sich schämen, dazu zu gehören
Nur: Gauck thematisiert auch einen Begriff, der in Zeiten der Europa-Hybris der Europapolitiker in Frage gestellt wurde, nämlich den der nationalen Identität als Wert einer Volksgemeinschaft. Der widerspricht ja dem in Europa vorherrschenden Ton einer übernationalen Vision völlig und stellt ihn in einen fast neuartigen Zusammenhang, nämlich den des Geschichtsbewußtseins als Grundlage jeden nationalen Selbstbewusstsein. Hoffen wir, dass Gauck damit einen Ruck durch Deutschland gehen läßt. Aber ich kann mich einer gewissen altersweisen Resignation denn doch nicht erwehren.