Der Zauberberg II (fin de siècle)
Der Zauberberg ist vieles, er behandelt Bildung, Liebe, Tragik, Mysteriös-Mystisches, ist aber auch Personen, Menschen gewidmet, die eigentümliche Rollen spielen und teils tragisch enden.
Da hätten wir den homo humanus, den “terroristischen” Herrn Settembrini , mit dem sanft gedrehten Schnurrbart und der leicht abgewetzten, aber dennoch elegant wirkenden Kleidung. Er trifft auf Castorp und wirkt beredt. Settembrini stirbt übrigens sehr spät.
Dann haben wir da den satanischen Gegenspieler Naphtha, einen Jesuiten und Juden, der die Gewalt in der direkten Form ablehnt. Dennoch stirbt er in einem dramatischen Duell, ausgelöst durch eine literatenhafte Beleidigung (eigentlich keine) mit Herrn Settembrini dadurch, dass er die Kugel sich selber gibt. Herr S. dagegen schießt in die Luft.
Schließlich tritt auf Mijnheer Peeperkorn, Holländer mit kolonialer Übersee-Erfahrung, überraschend in Begleitung der bewussten Madame Chauchat, krank, russisch, Hans Castorp liebend, wenn beide es auch nie zugeben. Der hedonistische Mijnheer aber ist von barocker Grandiosität, körperlicher Größe, malariakrank und Akteur einiger Szenen, man kann auch sagen: Fress- und Trinkorgien, einschließlich derjenigen, in der er sich mit Hilfe eines kunstvoll geformten Fläschchens, Schlangengift enthaltend, umbringt. Er ist der späte Widerpart der beiden anderen, diesseitig, sinnlich, markant. Die Malaria (wie übrigens auch die Tuberkulose) war damals eine nicht ursächlich behandelbare Krankheit, obwohl man Chinin, die “Chinarinde” bereits einsetzte, was auch der Mijnheer tat. Ohne greifbaren Erfolg.
Hans Castorp, Vetter des an der Tuberkulose sterbenden Leutnants Jochen Ziemßen, beide aus Hamburg, aus dem Flachlande, nun immerhin, er stirbt nicht und verläßt das plötzlich unbehauste Haus nach jenem “Donnerschlag”, dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, um in denselben zu ziehen. Es bleibt offen, ob er darin umkommt, aber es ist wahrscheinlich. Castorp wird im Text immer als “Sorgenkind des Lebens ” bezeichnet – es ist nicht ganz klar, warum. Die erotische Beziehung zu Madame Chauchat vom Guten Russentisch, sehr verdeckt, sehr verklemmt, und die homoerotische vorher zu Pribislav Hippe in einem Internat – im Flachlande, beide werden verknüpft durch phallische Schreibgeräte, bei Hippe ist es ein gewöhnlicher Bleistift, bei Madame ein silberner “Crayon”. Alles sehr verschlüsselt und doch offenbar.
Dann haben wir da noch die Ärzte des Berghofs. Den blaubackigen Hofrat Behrens und den etwas unheimlichen Doktor Krokowski (eine Art Oberarzt), der Vorträge über Liebe und Krankheit hält und diese unglaubliche Seance leitet, bei der der verstorbene Ziemßen wiederkehrt. Der Hofrat, der diesen Titel nach der wohl erfolgreichen Behandlung eines Exoten verliehen bekam, führt die Diagnosen und die Behandlungen durch. Es werden Blutuntersuchungen (Gaffky Skala) und absolut modern, Röntgenuntersuchungen mit fotografischen Aufnahmen durchgeführt, die der Patient in Kopie erhält (die “Platte”) und stolz als Erinnerungsfoto herumzeigt (heute macht man das mit CTs oder Ultraschallbildern).
Fast alle diese Helden des Romans, alle müssen sterben, teils durch die Krankheit, teils durch Selbstmord, aber Hans Castorp, der Einzige, der dem Berghof mit den anderen “entkommt”, ereilt sein eigenes Schicksal, das aber nur angedeutet wird: Der “Donnerschlag”, der den Beginn des Ersten Weltkriegs markieren soll, findet das Sorgenkind auf den Schlachtfeldern, vielleicht Frankreichs, wo er im Dunkel verschwindet, den Leser am Ende des Romans im Unklaren über sein wahres Schicksal lassend. Herrn S., der Humanist, verabschiedet sich von Hans Castorp und nennt ihn sogar “Caro” und “Giovanni”, ein Schelm, der sich dabei was denkt… er ist Überlebender – wie könnte es bei diesem Charakter anders sein?
So ist der Zauberberg auch ein “fin de siècle”-Werk, das die Vorkriegsgesellschaft wie in einem Brennglase, dem Berghof, schildert. Anhand einer dem Tode geweihten morbiden großbürgerlichen Ansammlung von Schicksalen (einer Art Mikrogesellschaft) zeigt sich, dass sie, zu einer riesigen Metapher geronnen, bekennen muss, zum Untergang verurteilt zu sein.
Genau das war ja dann das Schicksal auch der Makrogesellschaft…