DAS ABITUR AUS GÜNTERS SICHT

Das Abitur kam. Eine richtige Vorstellung von dieser Prüfung hatten wir ja nicht, obwohl wir natürlich ehrfürchtig die jeweils höheren Klassen bei deren Abitur beobachten konnten, selbst wenn die Prüfungstage der mündlichen Prüfung für die anderen schulfrei waren. Diese Schüler liefen immer besonders bedeutungsschwer herum und wir Niederen (Nieten) schauten ehrfürchtig zu ihnen auf. Nun waren wir aber selber dran. Ich war sehr unsicher, ob ich es schaffen würde.

Es begann mit dem schriftlichen Teil, im Zeichensaal, in den oberen Stockwerken. Der Teil bestand in Deutschaufsätzen, Latein- und Griechisch-Übersetzungen, Mathe etc. Die Aufsatz-Übung (Besinnungsaufsatz) gibt es heute nicht mehr. Schade.
Wir können übrigens heute unsere Aufsätze einsehen. Im Nachtrag muss gesagt werden, dass wir 2006 unser 50jähriges Abitursjubiläum gefeiert haben; dabei haben wir diese Machwerke gesehen.

Mein Aufsatz trug den Titel:
„Führt die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften von der Religion weg?“, was mir im Rahmen meiner damaligen Interessen nahe zu liegen schien. Es ergab sich ein „gut“, und wenn ich das jetzt lese, muss ich sagen es war ein rechtes Geschwafel, das darin gipfelte, dass man „das Unerforschliche ruhig zu verehren habe…“ (aus Goethe’s Werken zur Naturwissenschaft 1791).

Ich kann ich mich nur noch schemenhaft an alles erinnern, etwa, dass die Prüfung im Kunstraum stattfand, jener Einrichtung, in der Herr Fox, seines Zeichens Kunstlehrer, uns irgendwelche Fertigkeiten vermitteln sollte, meist scheiternd an unserer Untauglichkeit, ich wage zu behaupten, aber auch an seiner eigenen… Es gab dort einen altertümlichen Projektor, der zu Diavorführungen diente. So was gab’s also damals schon, die großen Glasdias waren schwarzweiß und handelten z.B. von griechischen Kunstdenkmälern. Wobei mir einfällt, dass ich im Rahmen unserer Klassengemeinschaft eine Funktion auszuüben hatte; ich war nämlich Kartenholer. Was das heißt? Nun, dieser muss Unterrichtsmittel, etwa Landkarten, für den Geografieunterricht, oder ganz banal Kreide für die Tafel, aber auch Dias für den Kunstunterricht aus dem dafür vorgesehenen Raum holen und dort wieder deponieren. Dass ich auch den Projektor bedienen durfte, war eine besondere Gunst und Ehre.
Zurück zum Abitur. Wie betont, der schriftliche Teil blieb mir nicht so in der Erinnerung, mehr jedoch der mündliche. Wir hatten also in der schülerleeren Schule morgens im dunklen Anzug und vorschriftsmäßiger Krawatte, die ich damals binden lernte (von wem? Meinem Vater?) zu erscheinen und zwar in Gruppen zu je Fünf eingeteilt. Unser Aufenthaltsraum war eine Klasse im Erdgeschoß und die Prüfung unter Vorsitz des Oberschulrats Bruchmann, der aus Düsseldorf angereist war, abgehalten. Der Hausmeister Wegener, ein köstliches Original, durfte uns Getränke (etwa Kaffee) bringen. Und beruhigen. Denn das hatten wir bitter nötig, da gleich in der ersten Gruppe einer unserer Kameraden durchfiel! Es handelte sich um unseren „Freiherrn“, Ramung von Künsberg, einen manchmal durchaus elitär wirkenden Kollegen. Gönnten wir es ihm? Sicher nicht, denn wir fühlten uns gemeinsam betroffen. Eine Katastrophe, denn wir waren ja davon ausgegangen, so hatte man es uns gesagt, dass man bei der günstigen Zusammensetzung der Kommission kaum durchfallen könnte. Und nun war das passiert! Wir waren ziemlich demoralisiert und jeder glaubte, es könne auch ihn treffen.
Ich wurde hereingerufen. Herzklopfen. Schweiß. Prüfungsfächer waren Mathe und Französisch. Mathe: ich sollte eine Tangente berechnen. Mein Herz fiel und fiel in welche Tiefen auch immer, aber – ich konnte es! Im Französischen ging es um einen Sartretext. Wir hatten 20 min Zeit, um ihn zu lesen, mussten dann übersetzen und Kommentare abgeben, auf Französisch versteht sich. Auch das ging leidlich über die Bühne und dann, als alle durch waren, wurde des Ergebnis mitgeteilt: Alle hatten bestanden. Hurrageschrei brach aus, einer hatte eine Flasche Schaumwein mit, die wurde geleert, das musste sein. Zuhause wurde weiter gefeiert und ich – war ich betrunken? Ich weiß es nicht mehr, aber das Hochgefühl blieb bestehen. Schließlich war es die erste Prüfung von Rang, die Reifeprüfung eben, die uns die Tore aufmachte (ins Leben??, wenigstens in die Uni, was mein erklärtes Ziel war, unvorbereitet und unaufgeklärt zwar, aber zielstrebig). Damals stand schon fest, dass ich ein Studium der Chemie in Marburg beginnen wollte, obwohl ich nicht im Entferntesten wusste, was mich da erwarten würde.
Erst nachdem ich die volle Tragweite der Abitursprüfung erkannt hatte – und das war erst Tage später – brach die innere Freude durch: du hast was geschafft, was geleistet, was gebracht, was du dir vorher nicht zugetraut hattest. Stolz beschreibt das Gefühl am ehesten.